Es war eine Nachtgeburt, beflügelt von etlichen Viertele heimischen Weines, und schon am nächsten Morgen beschlich die Initiatoren die Sorge, ihre schöne Idee habe in der widerständigen Wirklichkeit keine Chance. Aber ab und zu haben gute Ideen doch eine Chance. Blicken wir daher zurück zu den Anfängen der Meersburger Sommerakademie. Wer die Geschichte der pädagogischen Leitbilder im deutschen Schulwesen der Nachkriegszeit studieren möchte, der fände wohl in den Lehrplänen dieser fünfeinhalb Jahrzehnte den besten Aufschluss. Griff man in den ersten Jahren nach der Katastrophe von 1945 auf Ideen der so genannten Reformpädagogik vor und nach dem Ersten Weltkrieg zurück, so wurden ab den Fünfzigerjahren Anstöße aus England und den USA immer stärker. Sie zeigten sich im Gymnasium vor allem in Begriffen wie Sprachlabor, Lernprogramm, Validierung u.a., generell in einer zunehmenden „Verkopfung“ des angestrebten schulischen Geschehens. Dies bedeutete aber eine Verkümmerung der Kreativität, und das natürlich vor allem in den musischen Fächern, wo der Lehrer beispielsweise in bildender Kunst seine Schüler über Themen wie die sozialpolitische Bedeutung der Arbeit des Bauhauses oder Ähnliches informieren sollte, während die jungen Leute aber wenig Gelegenheit hatten, selber mit Pinsel und Stift ihre schöpferischen Fähigkeiten zu erproben. Ähnlich sah es in der Musik aus: Was früher oft zu kurz gekommen war an theoretischem Wissen, das beherrschte nun das Feld, das praktische Musizieren aber wurde vernachlässigt. Die Lehrer mussten in die jeweils neuen Lehrpläne eingeführt werden, und das geschah in Baden-Württemberg in den Staatlichen Akademien für Lehrerbildung Calw und Comburg – ab 1978 kam Donaueschingen dazu. Das Tagesprogramm war immer ziemlich umfangreich, aber die wichtigsten Gespräche fanden in der Regel in den Abendstunden statt und dauerten oft bis über Mitternacht hinaus. An einem solchen Abend während einer Musikertagung im Jahr 1978 auf der Comburg kam unter den Teilnehmern die Idee auf, einmal im Lauf des Jahres das miteinander zu praktizieren, worin man schließlich auf hohem Niveau ausgebildet worden war: ein Instrument zu spielen oder zu singen. Würde sich die Idee verwirklichen lassen? Der damalige Leiter der Gymnasialabteilung im Kultusministerium in Stuttgart, Ministerialrat Hartmut Bonz, war interessiert an dem Plan, und Professor Hans Pitsch, Präsident des Oberschulamts Tübingen, sagte seine Unterstützung zu. Dort war damals auch Regierungsschuldirektor Heinz Spaeth tätig, zuständig für die Fächer Französisch und Musik und auch für die Aufbaugymnasien, zugleich war er die Hauptperson bei der Initiative „Musikwoche“. Im Aufbaugymnasium Meersburg war seit August 1978 Oberstudiendirektor Edwin Röttele Schulleiter. Späth und Röttele hatten schnell über das dienstliche hinaus ein gutes persönliches Verhältnis gewonnen, und als Spaeth Ende 1978 anfragte, ob man in den nächsten Sommerferien im Seminar Meersburg eine Fortbildungswoche für Musiklehrer machen könne, war die Zustimmung keine Frage; es musste zwar noch das Einverständnis des Personals in Küche und Haus gewonnen werden, doch auch dieses ließ sich trotz Mehrarbeit dafür erwärmen. Von Anfang an wurden ein paar Konstanten eingebaut, Korsettstangen sozusagen: Die Akademie fand in der vorletzten Woche der Sommerferien statt, am Dienstagabend gab es im Aufbaugymnasium – bei gutem Wetter im Reithof oder im Innenhof des Seegebäudes, bei schlechtem in der Seminarkapelle – ein Serenadenkonzert; am Samstagnachmittag wurde in einer größeren Kirche der Umgebung das Haupt- und Abschlusskonzert geboten. Dazwischen und auch danach gab es Auftritte von kleineren Gruppen in Überlingen, Weißenau, Bad Waldsee, Aulendorf oder Spaichingen und anderen Orten. Veranstaltet wurde diese Fortbildungswoche vom Kultusministerium Baden-Württemberg, eingeladen wurden zunächst Musiklehrer an den Gymnasien des Landes. Die Reaktion war schon beim ersten Mal 1979 ausgesprochen positiv: Rund achtzig Meldungen gingen ein, und es war nicht ganz einfach, alle Damen und Herren zufrieden stellend in den Internatszimmern unterzubringen und in den Folgejahren dafür zu sorgen, dass jeder einmal auf die Südseite kam mit dem 1000-Dollar-Blick auf See und Alpen. Aber es herrschte von Anfang an eine freundschaftliche, geradezu familiäre Atmosphäre, und die half und hilft noch immer über manche Modernitätsmängel wie die fehlende Nasszelle für jedes Zimmer hinweg. Auch das Publikumsinteresse war vom ersten Jahr an gegeben: Schon 1979 war die Seminarkapelle bis auf den letzten Platz besetzt und die berühmte Birnau beim Abschlusskonzert von vorn bis hinten voll. Diese große Resonanz in der Öffentlichkeit und die durchweg positive Reaktion der Teilnehmer ermutigte die Initiatoren, das Begonnene fortzusetzen. Als besonders fruchtbar hatte sich der Erfahrungsaustausch unter den Lehrern in den Abend- und Nachtstunden erwiesen, vor allem in der idyllisch gelegenen Haltnau – hier nahmen manche musikalischen Projekte an den Schulen des Landes ihren Anfang. Hervorheben muss man auch die Unterstützung dieser Lehrerinitiative durch die Oberschulämter Tübingen, Stuttgart und Karlsruhe (Freiburg stand in den ersten Jahren leider abseits); sie waren sowohl bei den Dienstagskonzerten in Meersburg wie auch bei den samstäglichen Abschlusskonzerten von Anfang an durch ihre Präsidenten und Referatsleiter zahlreich vertreten, und im Verein der Freunde der Sommerakademie hat traditionell der jeweilige Tübinger Oberschulamtspräsident den Vorsitz inne (Herr Pitsch 1979 – 1982; Herr Mäck 1982 – 1996; Herr Dr. Saller seit 1996 [seit Sommer 2000 Frau Oberschulamtspräsidentin Dr. Ruep]). War der Teilnehmerkreis zunächst auf die Musiklehrer an Gymnasien des Landes beschränkt, so gab es schon bald Anfragen aus den anderen Schularten, und seit 1987 treffen sich Lehrer aller weiterführenden Schularten Baden-Württembergs zu dieser Fortbildungswoche in Meersburg. Dadurch hat sich die Teilnehmerzahl glatt verdoppelt, und man musste auf Quartiersuche gehen. Größter Nothelfer war in den ersten zwei Jahren das ehemalige Aufbaugymnasium und jetzige Bildungswerk St. Joseph der Pallottiner im benachbarten Hersberg/Immenstaad. Was der damalige Minister für Kultus und Unterricht Gerhard Mayer-Vorfelder in einem Grußwort 1987 schrieb, hat auch heute noch Gültigkeit: „Die Konzerte der Meersburger Sommerakademie haben von Jahr zu Jahr an Bedeutung gewonnen. In glücklicher Weise verbinden sich hier künstlerische Betätigung, Fortbildung und musischkulturelle Breitenarbeit. Seit 1979 kommen jährlich in den Sommerferien Schulmusiker des Landes zusammen, um unter der Anleitung namhafter Dirigenten eine Probenwoche durchzuführen, bei der Meisterwerke der Musikliteratur erarbeitet werden und die im Musikstudium begonnene künstlerische Ausbildung weitergeführt wird. Die Räume des Staatlichen Aufbaugymnasiums in Meersburg erweisen sich dabei als ideale Tagungsstätte zur Vorbereitung von Konzerten, die weit über Meersburg hinaus bekannt geworden sind und insbesondere das Musikleben vieler oberschwäbischer Kirchen bereichern. Das Engagement der Musiklehrer als Instrumentalist, Sänger, Solist oder Organisator führt neben den Konzertereignissen für die weitere Öffentlichkeit vor allem auch zu beruflichen Erfahrungen, die jeder Teilnehmer in die praktisch-musikalische Arbeit der Heimatschule einbringen kann. Es ist mir daher eine ganz besondere Freude, dass bei der neunten Meersburger Sommerakademie erstmals Lehrer aller weiterführenden Schularten zusammenwirken und der Kreis der gymnasialen Musiklehrer, die seit vielen Jahren die Akademie regelmäßig besuchen, organisch erweitert wird. Gerade weil an den Schulen nur einer oder wenige Musiklehrer tätig sind, ist es mir ein Anliegen, den beruflichen Kontakt und den Erfahrungsaustausch auf hoher künstlerischer Ebene fördernd zu unterstützen...“ Von Anfang an war Heinz Spaeth der „spiritus rector“, der Ideengeber und musikalische Organisator der Meersburger Sommerakademie, und er dirigierte auch den Serenadenabend in den barocken Gemäuern der Schule. Es waren viele zauberhafte, ja geradezu verzauberte Stunden dabei, wenn etwa im Laufe des Konzertes in der sich verstärkenden Dunkelheit ein fast südländischer Sternenhimmel immer deutlicher sichtbar wurde und die dezente Reithofbeleuchtung die Wände in ein warmes Ocker tauchten und der Musik eine märchenhafte Bühne boten; oder wenn in der köstlichen „Schwäbischen Schöpfung“ von Sebastian Sailer im Innenhof des Seminars Gott Vater und seine Komparsen in typisch barocker Naivität aus der himmlischen Kapelle in den irdischen Hof und umgekehrt wechselten und anschließend Schauspieler/Sänger und Zuschauer das ganze „spectaculum sacrum“ mit Most und Brezeln miteinander feierten oder wenn man in der überfüllten Seminarkapelle wirklich eine Stecknadel hätte fallen hören, als der junge Attila Falvay, Primarius des Rundfunkorchesters Budapest, seine Beethoven-Interpretation bot. Das war höchste musikalische Kunst in der in dieser Hinsicht ohnehin nicht armen Provinz, geboten von einer Gruppe, die sonst nicht besonders hervortrat: den Musiklehrern. Heinz Spaeth erhielt für seine Leistung auf Antrag des Oberschulamts Tübingen 1998 mit Recht das Bundesverdienstkreuz am Bande. Für das große Abschlusskonzert am Abend wurde bis 1997 immer ein auswärtiger Dirigent gewonnen, sodass die Akademieteilnehmer im Laufe der Jahre deutlich unterschiedliche Stile und Temperamente im Dirigat kennen lernten. Auch die Orte wechselten; war es zunächst die fast heimatliche Birnau und im Jahr darauf die fast ebenso nahe Klosterkirche Salem, so reichte in der Folgezeit der Radius schon bis Überlingen, Ravensburg, Wolfegg, Weingarten und 1999 schließlich bis zur Schlosskirche in Friedrichshafen. In allen diesen Konzerten beeindruckte, was Chor und Orchester in der kurzen verfügbaren Probenzeit zustande gebracht hatten. Sichtbar – oder besser hörbar – wurde dabei auch, welches künstlerische Potenzial in dieser Lehrergruppe steckt. In ganz anderer Weise war dieses Potenzial nach dem Schlusskonzert beim anschließenden, ausgesprochen fröhlichen Abend im Speisesaal des Meersburger Seminars zu erleben. Die gute Einstimmung lieferte die Küche, mal mit einem festlichen Menü, mal mit einem opulenten Buffet. Dann schlug die Stunde der Komödianten: In einem wahren Feuerwerk boten verschiedenste Gruppen und Solisten ein Ad-hoc-Programm aus Schlagern, Sketchen und Brettl-Literatur, auf das sich nicht zuletzt die fleißigen Helfer aus Haus und Küche schon die ganze Woche gefreut hatten. Es war für alle ein furioser Abschluss einer außerordentlichen Woche. Für die Schule, die seit 1986 den programmatischen neuen Namen „Droste-Hülshoff-Gymnasium Meersburg“ trägt, war die Entscheidung für die Sommerakademie Teil der notwendigen Umstrukturierung von der überholten Form des Aufbaugymnasiums zu einer sinnvollen Neukonzeption mit den Wahlprofilen Musik oder Naturwissenschaften. Was 1978 noch als „Verreckerle“ gegolten hatte, präsentiert sich in mancher Hinsicht schon lange als Vorreiter für die gymnasiale Bildung im Lande, wie es Minister Gerhard Mayer-Vorfelder 1987 in einem Gespräch mit dem Schulleiter formuliert hat: „Meersburg kann so etwas wie eine staatliche Privatschule sein.“ Er hatte damit exakt die Intention und Hoffnung der Schule formuliert. Mit dem Ausscheiden von Heinz Spaeth 1998 begann im folgenden Jahr eine Übergangszeit, getragen von den alten Teilnehmern und Stützen Heinz Hübner und Joachim Merz und dem Newcomer Peter Binkowsky vom Einstein-Gymnasium Böblingen, doch in naher Zukunft sollte eine junge Generation das Erbe einer großartigen Tradition in Meersburg übernehmen. Wie vielfältig die während der Woche erarbeitete Musikliteratur ist und wie weit die Akademie mit ihren Darbietungen in die Region ausstrahlt, möge beispielhaft das Konzertprogramm von 1999 für Bad Waldsee zeigen: Es reicht von Anton Dvoraks „Humoreske“ über Franz Lehárs „Vilja-Lied“ bis George Gershwins „Summertime“ aus der Oper „Porgy and Bess“ und Andrew Lloyd Webbers „Memory“ aus dem Musical „Cats“. aus: Leben am See - Das Jahrbuch des Bodenseekreises Bd. XVIII. Abdruck mit freundlicher Gebehmigung der Fa. Senn/Graphischer Betrieb, Tettnang