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Graner Messe

Die Graner Messe ist von ihren Dimensionen her die größte unter diesen Messen. Ihre Orchesterbesetzung geht deutlich über die der Ungarischen Krönungsmesse hinaus und rückt das Werk in die Nähe von Liszts großen Symphonischen Dichtungen. Das entspricht dem Anlaß der Komposition: Die Stadt Gran (ungarisch: Esztergom), an einem wichtigen Übergang über die Donau gelegen, gilt als eine der ältesten Städte Ungarns. Dort wurde im Jahre 1000 König Stephan I. als erster König Ungarns gekrönt; er ist bis heute der Nationalheilige des Landes. Die hoch über dem Fluß thronende klassizistische Basilika zählt zu den größten Kirchenbauten Europas. Über ihrem Portal steht, die nationale Bedeutung dieser Kathedrale unterstreichend, in goldenen Lettern „CAPUT, MATER ET MAGISTRA ECCLESIARUM HUNGARIAE“. Als Franz Liszt 1855 vom Ungarischen Kardinalprimas den Auftrag erhielt, zu der für den kommenden Sommer erwarteten Einweihung dieser Kirche eine Missa solemnis zu komponieren, war klar, dass er keineswegs sparsam mit den musikalischen Mitteln umgehen müßte. Die Partitur verlangt neben Vokalsolisten, Chor und Streichern eine umfangreiche Bläser- und Schlagzeugbesetzung einschließlich Tamtam sowie Harfe und Orgel. Die Graner Festmesse steht somit an der Schwelle zwischen geistlichem Werk und Staatsmusik von repräsentativem Charakter. Die Veröffentlichung erfolgte 1859 durch die Österreichische Staatsdruckerei. Die Graner Uraufführung fand am 31. August 1856 unter der Leitung von Franz Liszt statt. Im selben Jahr dirigierte Liszt in Pest die erste Aufführung von Hungaria und wurde als Confrater im Pester Franziskanerkloster aufgenommen — es war in jeder Hinsicht ein erfolgreiches und ehrenvolles Jahr für den Komponisten.

Entstanden ist die Messe binnen kurzer Zeit etwa von Februar bis April 1855. Vorbilder waren vergleichbare Werke von Beethoven und Cherubini. Liszt genügte mit einem gewissen feierlichen Pathos dem Gattungsanspruch und nahm sich zugleich die größtmögliche kompositorische Freiheit. Lediglich bezüglich der Länge war er bescheidener und äußerte selbst: „Die Messe wird keine übermäßige Zeitdauer in Anspruch nehmen, weder bei der Aufführung noch bei der Einstudierung.“

Eine Frage, die sich nicht nur für Liszt sondern auch für sein Publikum stellte, ist die des geistlichen Charakters dieses Werkes. Liszt selbst hat sich immer wieder in Briefen und Schriften (er bediente sich dabei zumeist der französischen Sprache) zur Kirchenmusik geäußert. Noch 1854 mutmaßte er: „Wahrscheinlich bietet sich später für mich eine passende Gelegenheit dar, den religiösen Stil, so wie ich ihn empfinde und begreife, weiter auszuarbeiten, namentlich durch die Komposition einer Missa solemnis“. Damals konnte er nicht ahnen, wie schnell sich ihm diese Gelegenheit bieten würde. Im Falle der Graner Festmesse betonte Liszt unaufhörlich, er habe mit diesem Werk Stellung bezogen als „compositeur religieux et catholique“ und schrieb 1856 — als ginge es darum, einer möglichen Kritik vorzubeugen — seine Missa solemnis sei „von reinem musikalischen Wasser (nicht im Sinne des üblichen verwässerten Kirchenstils, wohl aber dem Diamant-Wasser vergleichlich) und tiefbeseeltem katholischen Wein“. Er selbst zog Vergleiche zu anderen Gattungen, in denen er gearbeitet hatte und betonte in einem Brief: „Sie können versichert sein [...] daß ich mein Werk nicht komponiert habe, etwa wie man ein Mess-Gewand anstatt eines Paletot anziehen möchte, sondern daß es aus wahrhaft inbrünstigem Herzens-Glauben, so wie ich ihn seit meiner Kindheit empfinde, entsprossen ist. 'Genitum, non factum' — und daher konnte ich wahrgetreu sagen, daß ich meine Messe mehr gebetet als komponiert habe.“

Formal sind diese Dinge der Messe kaum zu entnehmen. In ihrer zyklischen Anlage weist sie sogar erstaunliche Parallelen auf zu Kompositionstechniken, die Liszt zuvor in seinen symphonischen Dichtungen erprobt hatte, und Liszts Schlußfugen im Gloria und Credo sind alles andere als schulgerecht. Die Wirkung liegt maßgeblich in Interpretation und Klangfarbe: In der Partitur finden sich so ungewöhnliche Vortragsbezeichnungen wie „Doloroso flebile“, „Andante con divozione“, „dolce suave“ oder auch „erhaben und sehr ausgesprochen“. Oft sind es Nuancen, die darüber entscheiden, ob die Musik berührt oder zu pathetisch wirkt. Kein Wunder, dass der erfahrene Dirigent Franz Liszt darauf bestand, die Einstudierung selbst zu leiten und dass dieses kaum aufgeführte Werk eine Herausforderung für die Meersburger Sommerakademie darstellt!

Beate Angelika Kraus