Ödon von Horváth (1901-1938): Ein Kind unserer Zeit

Literaturtipps:

  • Ödön von Horváth. Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden, herausgegeben von Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke, Bände 1-15, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983 ff: Bd. 14: Ein Kind unserer Zeit, Frankfurt 1985
  • Hörbuch: Ein Kind unserer Zeit. Gelesen von Raphael von Bargen, Mono Verlag, Wien 2009.

Verfilmung: Un fils de notre temps, Frankreich 2003, Regie: Fabrice Cazeneuve

im Internet:

  • Ödön von Horváth im Projekt Gutenberg.de:

http://gutenberg.spiegel.de/?id=19&autorid=290&autor_vorname=%D6d%F6n+von&autor_nachname=Horv%E1th&cHash=b31bbae2c6

• Das Literaturhaus in Wien (Begegnungsstätte und Forschungsstelle) bietet umfangreiche Informationen unter:   http://www.literaturhaus.at/autoren/H/horvath/

• Das Schlossmuseum Murnau widmet von Horváth seit dem 2. März 2010 eine neu konzipierte Daueraustellung:   http://schlossmuseum.swhosting2.de/oedoen_von_horvath.html

http://gutenberg.spiegel.de/?id=19&autorid=290&autor_vorname=%D6d%F6n+von&autor_nachname=Horv%E1th&cHash=b31bbae2c6

 

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Ödon von Horváth (1901-1938): Ein Kind unserer Zeit

Konzeption bereits im Sommer 1937 (nach der Niederschrift von „Jugend ohne Gott"), abgeschlossen im Januar 1938. Der bei Allert de Lange in Amsterdam erschienenen Originalausgabe (erste Ankündigung in der Exilzeitschrift Das neue Tagebuch am 11. Juni 1938) wurde ein Vorwort von Franz Werfel sowie der Text von Carl Zuckmayers Grabrede hinzugefügt. Zusammen mit Jugend ohne Gott wurde Ein Kind unserer Zeit von den Nationalsozialisten auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums. Stand vom 31. Dezember 1938" gesetzt. Das bedeutete die Beschlagnahme aller etwa im Reichsgebiet auftauchenden Exemplare, so dass nur wenige Rezensionen in der deutschen Exilpresse erschienen sind; die wichtigsten Würdigungen erfolgten von Franz Werfel, Stefan Zweig und Klaus Mann. Ein Kind unserer Zeit wurde unmittelbar nach Erscheinen in mehrere Sprachen übersetzt, es erschienen etwa in englischer Sprache:

  • A Child of Our Time and being Youth without God, translated by R. Wills Thomas. With a Foreword by Franz Werfel and an appreciation by Stefan Zweig, London 1938.
  • A Child of Our Time. translated by R. Wills Thomas, New York 1939

 

Horváths Titelwahl (der Topos vom Kind unserer/dieser Zeit erscheint wiederholt im Laufe des Romans!) spielt an auf die erste Autobiographie von Klaus Mann (1906-1949), in der der Sohn von Thomas Mann seine Jugendjahre bis 1924 schilderte: Klaus Mann, Kind dieser Zeit, Berlin 1932. Auch dieses Dokument der deutschen Jugend wurde 1933 von den Nationalsozialisten verboten und verbrannt, wie alle Werke von Klaus Mann.

Ödon von Horváth (1901-1938):  Auszüge aus Ein Kind unserer Zeit

[Anfang:]

 

Ich bin Soldat.

Und ich bin gerne Soldat.

Wenn morgens der Reif auf den Wiesen liegt oder wenn abends die Nebel aus den Wäldern kommen, wenn das Korn wogt und die Sense blitzt, obs regnet, schneit, ob die Sonne lacht, Tag und Nacht - immer wieder freut es mich, in Reih und Glied zu stehen.

Jetzt hat mein Dasein plötzlich wieder Sinn! Ich war ja schon ganz verzweifelt, was ich mit meinem jungen Leben beginnen sollte. Die Welt war so aussichtslos geworden und die Zukunft so tot. Ich hatte sie schon begraben. Aber jetzt hab ich sie wieder, meine Zukunft, und lasse sie nimmer los, auferstanden aus der Gruft!

Es ist noch kaum ein halbes Jahr her, da stand sie bei meiner Musterung neben dem Oberstabsarzt. »Tauglich!« sagte der Oberstabsarzt, und die Zukunft klopfte mir auf die Schulter. Ich spürs noch heut.

Und drei Monat später erschien ein Stern auf meinem leeren Kragen, ein silberner Stern. Denn ich hatte hintereinander ins Schwarze getroffen, der beste Schütze der Kompanie. Ich wurde Gefreiter und das will schon etwas heißen.

Besonders in meinem Alter.

Denn ich bin fast unser Jüngster.

Aber eigentlich sieht das nur so aus.

Denn eigentlich bin ich viel älter, besonders innerlich. Und daran ist nur eines schuld, nämlich die jahrelange Arbeitslosigkeit.

Als ich die Schule verließ, wurde ich arbeitslos.

Buchdrucker wollte ich werden, denn ich liebte die großen Maschinen, die die Zeitungen drucken, das Morgen-, Mittag- und Abendblatt.

 Aber es war nichts zu machen.

Alles umsonst!

Nicht einmal zum Lehrling konnte ichs bringen in irgendeiner Vorstadtdruckerei. Von der inneren Stadt ganz zu schweigen!

Die großen Maschinen sagten: »Wir haben eh schon mehr Menschen, als wir brauchen. Lächerlich, schlag dir uns aus dem Kopf!«

Und ich verjagte sie aus meinem Kopf und auch aus meinem Herzen, denn jeder Mensch hat seinen Stolz. Auch ein arbeitsloser Hund.

Raus mit euch, ihr niederträchtigen Räder, Pressen, Kolben, Transmissionen! Raus!

Und ich wurde der Wohltätigkeit überwiesen, zuerst der staatlichen, dann der privaten -

Da stand ich in einer langen Schlange und wartete auf einen Teller Suppe. Vor einem Klostertor.

Auf dem Kirchendach standen sechs steinerne Figuren. Sechs Heilige. Fünf Männer und ein Weib.

Ich löffelte die Suppe.

Der Schnee fiel und die Heiligen hatten hohe weiße Hüte.

Ich hatte keinen Hut und wartete auf den Tau.

Die Sonne wurde länger und die Stürme wärmer -

Ich löffelte die Suppe.

Gestern sah ichs wieder, das erste Grün.

Die Bäume blühen und die Frauen werden durchsichtig.

 

[...]

 

Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie gewaltig sie gewesen ist.

Unerwartet werfen plötzlich die größten Ereignisse ihre Schatten auf uns, aber sie treffen uns nicht unvorbereitet. Es gibt keinen Schatten der Welt, den wir nicht immer erwarten würden. Wir fürchten uns nicht!

In der Nacht zum Freitag, da gabs plötzlich Alarm.

Wir fahren aus dem Schlaf empor und treten an mit Sack und Pack. Ausgerichtet, Mann für Mann.

Es ist drei Uhr früh.

Langsam schreitet uns der Hauptmann ab - -

Langsamer als sonst.

Er schaut noch einmal nach, ob alles stimmt - denn nun gibts keine Manöver mehr.

Rascher als wir träumten, kam der Ernst.

Die Nacht ist noch tief und die große Minute naht - -

Bald gehts los.

Es gibt ein Land, das werden wir uns holen.

Ein kleiner Staat und sein Name wird bald der Geschichte angehören.

Ein lebensunfähiges Gebilde.

Beherrscht von einer kläglichen Regierung, die immer nur den sogenannten Rechtsstandpunkt vertritt -

Ein lächerlicher Standpunkt.

Jetzt steht er vor mir, der Hauptmann, und als er mich anschaut, muß ich unwillkürlich denken: wenn ich ihren Namen wüßte, würd ich ihr schreiben, direkt ins verwunschene Schloß.

»Wertes Fräulein«, würde ich schreiben, »ich war am nächsten Sonntag gern gekommen, aber leider bin ich pflichtlich verhindert. Gestern war Donnerstag und heut  ist schon Freitag, ich muß überraschend weg in einer dringenden Angelegenheit, von der aber niemand was wissen darf, denn darauf steht der Tod. Wann ich wiederkommen werd, das weiß ich noch nicht. Aber Sie werden immer meine Linie bleiben -«

Ich muß leise lächeln und der Hauptmann stutzt einen Augenblick.

»Was gibts?« fragt er.

»Melde gehorsamst nichts.«

Jetzt steht er schon vor meinem Nebenmann.

Ob der auch eine Linie hat? geht es mir plötzlich durch den Sinn -

Egal! Vorwärts!

Das Vaterland ruft und nimmt auf das Privatleben seiner Kinder mit Recht keine Rücksicht.

Es geht los. Endlich! -

Einst, wenn die Zeit, in der wir leben, vorbei sein wird, wird es die Welt erst ermessen können, wie friedlich wir gewesen sind.

Wir zwinkern uns zu.

Arm sind alle Worte, um den Reichtum der Rüstung zu schildern, in der unsere Sonne erglänzt. Und der Mond hinkt ihr nicht nach.

Denn wir lieben den Frieden, genau wie wir unser Vaterland lieben, nämlich über alles in der Welt. Und wir führen keine Kriege mehr, wir säubern ja nur.

Wir zwinkern uns zu.

Es gibt ein Land, das werden wir uns holen.

Ein kleines Land und wir sind zehnmal so groß - drum immer nur frisch voran!

Wer wagt, gewinnt - besonders mit einer erdrückenden Übermacht.

Und besonders wenn er überraschend zuschlägt.

Nur gleich auf den Kopf- ohne jeder Kriegserklärung!

 Nur keine verstaubten Formalitäten!

Wir säubern, wir säubern -

Heimlich, als wären wir Diebe, hatten wir die lächerliche Grenze dieses unmöglichen Staatswesens überschritten. Die paar Zöllner waren rasch entwaffnet - morgen sinds drei Wochen her, aber die Hauptstadt ist schon unser. Heut sind wir die Herren!

Hört das Kommando des historischen Augenblicks:

Setzt eueren Fuß auf Land, das euch nicht gehört! Steckt alles ein, raubt alles aus! Gebt keinen Pardon, denn es braucht keiner zu leben, wenn er euch nichts nützt!

Machet euch das Vergewaltigte untertan und vermehret euch durch Vergewaltigung!

Mit eiserner Stirne sollt ihr das fremde Brot fressen - -

Gedeihet nach dem Gesetz der Gewalt!

Säubert! -

Im Tal brennen die Dörfer.

Sie stehen in Flammen, umgeben von einer wilden Bergwelt.

Bravo, Flieger!

Obwohl ich euch persönlich nicht riechen kann, muß mans doch der Gerechtigkeit halber anerkennen: Ihr habt ganze Arbeit geleistet!

Nichts ist euch entgangen, auch wenn sichs noch so sehr den Bodenverhältnissen angepaßt hat.

Nichts habt ihr übersehen, auch wenn das rote Kreuz noch so grell sichtbar gewesen ist.

Nichts habt ihr ausgelassen - - keine Fabrik und keine Kirche.

Alles habt ihr erledigt!

Bravo, Flieger! Bravo!

Schießt das Zeug zusammen, in Schutt und Asche damit, bis es nichts mehr gibt, nur uns!

Denn wir sind wir.

 Vorwärts!

Frohen Mutes folgen wir eueren Spuren -

Wir marschieren über ein hohes Plateau.

Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser.

Es ist ein milder Abend mit weißen Wölklein an einem rosa Horizont.

Vor zwei Stunden nahmen wir fünf Zivilisten fest, die wir mit langen Messern angetroffen haben. Wir werden sie hängen, die Kugel ist zu schad für solch hinterlistiges Gelichter. Aber der Berg ist kahl und ganz aus Fels, nirgends ein Busch. Wir führen sie mit uns, unsere Gefangenen, und warten auf den nächsten Baum.

Sie sind aneinander gefesselt, alle fünf an einen Strick. Der Älteste ist zirka sechzig, der Jüngste dürfte so siebzehn sein.

Ihre Sprache ist häßlich, wir verstehen kein Wort.

Ihre Häuser sind niedrig, eng und schmutzig. Sie waschen sich nie und stinken aus dem Mund. Aber ihre Berge sind voll Erz und die Erde ist fett. Ansonsten ist jedoch alles Essig.

Selbst ihre Hunde taugen einen Dreck. Räudig und verlaust streunen sie durch die Ruinen -

Keiner kann die Pfote geben.

Am Rande eines Abgrundes kommt einem meiner Kameraden plötzlich eine Idee. Er erzählt sie und wir sagen nicht nein, denn das ist die einfachste Lösung.

Gedacht, getan!

Mein Kamerad versetzt plötzlich dem Jüngsten einen heftigen Stoß - - der stürzt den Abhang hinab und reißt die anderen vier mit sich. Sie schreien. Sie klatschen unten auf. Es waren dreihundert Meter.

Jetzt liegen sie drunten, doch niemand schaut hinab.

Zwei Krähen fliegen vorbei.

Keiner sagt ein Wort.

Dann marschieren wir weiter.

Die Krähen kommen wieder - -

Um uns gähnen Abgründe und drunten rauschen die Wasser.

Es war ein milder Abend und jetzt kommt die Nacht. - -

Einst, wenn die Zeitungen über unseren Kampf wirklichkeitsgetreu berichten dürfen, dann werden sich auch die Dichter des Vaterlandes besinnen.

Der Genius unseres Volkes wird sie überkommen und sie werden den Nagel auf den Kopf treffen, wenn sie loben und preisen, daß wir bescheidene Helden waren.

Denn auch von uns biß ja so mancher ins grüne Gras. Aber nicht mal die nächsten Angehörigen erfuhren es, um stolz auf ihr Opfer sein zu können.

Geheim waren die Verlustlisten und blieben es lange Zeit.

Nur unerlaubt sickerte es durch, unser Blut - - -

Der Hauptmann, den wir wie einen Vater lieben, wurde ein anderer Mensch, seit wir die Grenze überschritten.

Er ist wie ausgewechselt.

Verwandelt ganz und gar.

Wir fragen uns bereits, ob er nicht krank ist, ob ihn nicht ein Leiden bedrückt, das er heimlich verschleiert. Grau ist er im Gesicht, als schmerzte ihn jeder Schritt.

Was ist denn nur mit dem Hauptmann los?

Es freut ihn scheinbar kein Schuß:

Wir erkennen ihn immer weniger.

Zum Beispiel unlängst, als wir vom Waldrand zusahen, wie unsere Flieger das feindliche Lazarett mit Bomben belegten und die in heilloser Verwirrung herumhüpfenden Insassen mit Maschinengewehren bestrichen, da drehte sich unser Hauptmann plötzlich um und ging hinter unserer Reihe langsam hin und her.

 Er sah konstant zur Erde, wie in tiefe Gedanken versunken.

Nur ab und zu hielt er und blickte in den stillen Wald.

Dann nickte er mit dem Kopf, als würde er sagen: »Jaja« - -

Oder zum Beispiel, als wir unlängst eine Siedlung plünderten, da stellte er sich uns in den Weg. Er wurde ganz weiß und schrie uns an, ein ehrlicher Soldat plündert nicht! Er mußte erst durch unseren Leutnant, diesen jungen Hund, aufgeklärt werden, daß die Plünderung nicht nur erlaubt, sondern sogar anbefohlen worden war. Höheren Ortes.

Da ging er wieder von uns, der Hauptmann.

Er ging die Straße entlang und sah weder rechts noch links.

Am Ende der Straße hielt er an.

Ich beobachtete ihn genau.

Er setzte sich auf einen Stein und schrieb mit seinem Säbel in den Sand. Merkwürdigerweise mußte ich plötzlich an das verwunschene Schloß denken und an das Fräulein an der Kasse, das die Linien zeichnete - -

Sie wollte mich nicht sehen.

Was zeichnet denn der Hauptmann? Auch Linien?

Ich weiß nur, auch er will mich nicht sehen - -

Zwar schreitet er noch jeden Morgen unsere Front ab, aber er sieht nur mehr unsere Ausrüstung und nicht mehr durch sie hindurch in uns hinein.

Wir sind ihm fremd geworden, das fühlen wir alle.

Und das tut uns leid.

Manchmal fühlen wir uns schon direkt einsam, trotzdem wir in Reih und Glied stehen.

Als wären wir hilflos in einer uralten Nacht und es wär niemand da, der uns beschützt vor dem Blitz, der jeden treffen kann - -

 Und mit Sehnsucht denken wir an die Tage im Kasernenhof zurück.

Wie schön wars, wenn er uns abschritt - - wenn er beifällig nickte, weil alles stimmte, außen und innen.

Aber die Bande, die uns verbinden, lösen sich -

Herr Hauptmann, was ist mit dir?

Wir verstehen dich nicht mehr -

Herr Hauptmann, es tut uns leid.

Aber wir kommen nicht mehr mit.

Zum Beispiel, wie du es unlängst erfahren hast, daß wir die fünf gefangenen Zivilisten mit den langen Messern über den Abgrund expediert hatten, was hast du damals nur getrieben! Und derweil wars doch zu guter Letzt nur ein beschleunigtes Verfahren - vielleicht brutal, zugegeben! Man gewinnt keinen Krieg mit Glacéhandschuhen, das müßtest du wissen! Aber du schriest uns wieder an, ein Soldat sei kein Verbrecher und solch beschleunigtes Verfahren wäre frontunwürdig!

Frontunwürdig?

Was heißt das?

Wir erinnern uns nur dunkel, daß dies ein Ausdruck aus dem Weltkrieg ist - wir haben ihn nicht mehr gelernt.

Und du hast dem Kameraden, der auf die Idee mit dem Abgrund gekommen war, eigenhändig seinen Stern vom Kragen gerissen, seinen silbernen Stern -

Sag, Hauptmann, was hat das für einen Sinn?

Am nächsten Tag hat er doch seinen Stern wieder gehabt und du, du hast einen strengen Verweis bekommen - wir wissens alle, was in dem Schreiben stand. Der Leutnant hats uns erzählt.

Die Zeiten, stand drinnen, hätten sich geändert und wir lebten nicht mehr in den Tagen der Turnierritter.

Hauptmann, mein Hauptmann, es hat keinen Sinn!

Glaub es mir, ich mein es gut mit dir -

 Du hast von deiner Beliebtheit schon soviel verloren.

Einige murren sogar.

Wir schütteln oft alle die Köpfe - -

Oder: magst du uns denn nicht mehr?

Hauptmann, wie soll das enden mit dir?

Wohin soll das führen?

Änder dich, bitte, änder dich!

Werd wieder unser alter Vater - -

Schau, trotzdem daß die Flieger mustergültig vorarbeiten, gibt es doch noch Gefahren genug.

Sie lauern hinter jeder Ecke - -

Auch wenn wir durch Trümmer marschieren, man weiß es nie, ob aus den Trümmern nicht geschossen wird.

Eine Salve kracht über uns hinweg - -

Wir werfen uns nieder und suchen Deckung.

Nein, das war keine Salve - - das ist ein Maschinengewehr. Wir kennen die Musik.

Es steckt vor uns in einem Schuppen.

Ringsum ist alles verbrannt, das ganze Dorf - -

Wir warten.

Da wird drüben eine Gestalt sichtbar, sie geht durch das verkohlte Haus und scheint etwas zu suchen.

Einer nimmt sie aufs Korn und drückt ab - - die Gestalt schreit auf und fällt.

Es ist eine Frau.

Jetzt liegt sie da.

Ihr Haar ist weich und zart, geht es mir plötzlich durch den Sinn und einen winzigen Augenblick lang muß ich wieder an das verwunschene Schloß denken.

Es fiel mir wieder ein.

Und nun geschah etwas derart Unerwartetes, daß es uns allen die Sprache verschlug vor Verwunderung.

Der Hauptmann hatte sich erhoben und ging langsam auf die Frau zu - -

 Ganz aufrecht und so sonderbar sicher.

Oder geht er dem Schuppen entgegen?

Er geht, er geht -

Sie werden ihn ja erschießen - - er geht ja in seinen sicheren Tod!

Ist er wahnsinnig geworden?!

In dem Schuppen steckt ein Maschinengewehr -

Was will er denn?!

Er geht weiter.

Wir schreien plötzlich alle: »Herr Hauptmann! Herr Hauptmann!«

Es klingt, als hätten wir Angst - -

Jawohl, wir fürchten uns und schreien - -

Doch er geht ruhig weiter.

Er hört uns nicht.

Da spring ich auf und laufe ihm nach - - ich weiß es selber nicht, wieso ich dazu kam, daß ich die Deckung verließ - -

Aber ich will ihn zurückreißen, ich muß ihn zurückreißen!

Da gehts los - - das Maschinengewehr.

Ich sehe, wie der Hauptmann wankt, sinkt - - ganz ergeben - -

Und ich fühle einen brennenden Schmerz am Arm - - oder wars das Herz?

Ich werfe mich zu Boden und benutze den Hauptmann als Deckung.

Er ist tot.

Da seh ich in seiner Hand was weißes - -

Es ist ein Brief.

Ich nehm ihn aus seiner Hand und hör es noch schießen - - aber nun schützt mich mein Hauptmann.

»An meine Frau«, steht auf dem Brief.

Ich stecke ihn ein und dann weiß ich nichts mehr.

 Ich stecke den Brief ein und gehe fort.

Warum sagte ich nicht, daß er dem Hauptmann gehört?

Weil ich ihn selber überbringen will.

Das schickt sich so.

 

[... nach langem Krankenhaus-Aufenthalt, Besuch bei der Witwe des Hauptmannes]

 

»Also«, fährt sie fort und versucht sich zu beherrschen, »Sie nahmen ihm den Brief aus der Hand?« »Ja, ich bemerkte nämlich, daß er was Weißes in der Hand hält.«

»Sie wollten ihn retten, nicht?«

Es wird mir kalt, denn sie lächelt ganz irr -

»Ja«, sage ich, »ich wollte ihn retten.«

»Aber Sie kamen zu spät?«

»Ja, zu spät.«

Sie lächelt noch immer.

 »Und Sie haben ihn abgeschnitten?«

»Abgeschnitten?!«

Ich starre sie an, sie lächelt nicht mehr.

Abgeschnitten? Mir wirds ganz wirr -

Sie beobachtet mich.

»Erzählen Sie mir alles«, sagt sie und wird immer energischer, »ich habe ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren, ich war ja zu guter Letzt seine rechtmäßige Gattin und ich will es nicht haben, daß man mir hier mit Heldentod und dergleichen Sand in die Augen streut! Ich verzichte auf jedwede ›Schonung‹! Ich fordere die Wahrheit, die nackte Wahrheit!«

Sie ist verrückt geworden, durchzuckt es mich.

»Hier aus diesen Zeilen, aus seinem letzten Briefe, geht es einwandfrei hervor, daß er nicht gefallen ist, sondern daß er sich erhängt hat.«

Ich schnelle empor.

»Erhängt?!«

»Hier stehts schwarz auf weiß! Er schreibt es selber! Und jetzt will ich alles genau wissen, alles, alles!«

»Aber er hat sich doch gar nicht erhängt!«

»Lügen Sie nicht!« schreit sie mich an. »Genug gelogen!« Jetzt wirds mir zu dumm.

»Ich lüge nicht!« fahr ich sie an. »Was fällt Ihnen eigentlich ein?! Er ist ordnungsgemäß gefallen!«

»Gefallen?!« unterbricht sie mich kreischend und lacht ganz eisig. »Gefallen, sagen Sie?! Hier, lesen Sie seinen Brief, seinen letzten Brief, Sie Lügner!«

Sie wirft den Brief auf den Tisch und ich seh ihn dort liegen.

Aber ich rühr ihn noch nicht an.

Sie tritt ans Fenster und schaut hinaus.

Draußen fährt ein Zug vorbei, ein Vorortzug -

»So lesen Sie ihn doch!« herrscht sie mich plötzlich wieder  an. »Lesen Sie und seien Sie nicht so feig!«

»Ich bin nicht feig«, sage ich und werde wütend.

Rasch pack ich den Brief und beginne zu lesen.

»Meine liebe Frau«, lese ich, »kurz vor meiner langen Reise in die Ewigkeit will ich Dir nochmals danken, danken für all Deine Liebe und Treue. Verzeihe mir, aber ich kann nicht mehr weiterleben, mir gebührt der Strang« -

Ich stocke.

Der Strang?

Was schreibt er da, der Hauptmann?

Und ich lese weiter: »Wir sind keine Soldaten mehr, sondern elende Räuber, feige Mörder. Wir kämpfen nicht ehrlich gegen einen Feind, sondern tückisch und niederträchtig gegen Kinder, Weiber und Verwundete« -

Ich werfe einen Blick auf die Frau.

Sie steht noch immer am Fenster und schaut hinaus.

Gegen Weiber?

Ja, das stimmt.

»Verzeihe mir«, schreibt der Hauptmann, »aber ich paß nicht mehr in die Zeit« -

Ich schau die Frau Hauptmann an und denke: paßt du in die Zeit? Und ich frage mich: paß ich in die Zeit?

»Es ist eine Schande«, lese ich weiter, »und was mich am tiefsten schmerzt, ist der Untergang meines Vaterlandes. Denn jetzt erst hat mein Vaterland seine Ehre verloren und zwar für immer. Gebe Gott mir die Kraft, daß ich ein Ende machen kann, denn ich will nicht als Verbrecher weiterleben, mich ekelt vor meinem Vaterlande« -

Ekelt?

Die Frau schaut noch immer zum Fenster hinaus.

Was gibts denn dort draußen so Interessantes?

Wahrscheinlich nichts.

Ich blick auf sie und denk an den Hauptmann.

 Wohin soll das führen?

Wer kann dich noch verstehen?

Warum ekelt dich dein Vaterland?

Ja, es ist wahr: Du wolltest nicht mehr bei uns sein, bei deinen Soldaten.

Du warst uns fremd geworden, das fühlten wir schon damals - erinnerst du dich?

Zum Beispiel, wie du es seinerzeit erfahren hast, daß wir ein paar Gefangene erledigt hatten, was hast du damals nur getrieben! Und derweil wars doch zu guter Letzt nur ein beschleunigtes Verfahren - vielleicht brutal, zugegeben! Man gewinnt keinen Krieg mit Glacéhandschuhen, das müßtest du wissen! Aber du schriest uns an, ein Soldat sei kein Verbrecher und solch beschleunigtes Verfahren wäre frontunwürdig!

Frontunwürdig?

Was heißt das?

Wir erinnern uns nur dunkel, daß dies ein Ausdruck aus dem Weltkrieg ist - wir haben ihn nicht mehr gelernt.

Und du hast dem Kameraden, der auf die Idee gekommen war, eigenhändig seinen Stern vom Kragen gerissen, seinen silbernen Stern -

Sag, Hauptmann, was hat das für einen Sinn?

Am nächsten Tag hat er doch seinen Stern wieder gehabt und du, du hast einen strengen Verweis bekommen - wir wissens alle, was in dem Schreiben stand. Der Leutnant hats uns erzählt.

Die Zeiten, stand drinnen, hätten sich geändert und wir lebten nicht mehr in den Tagen der Turnierritter.

Hauptmann, Hauptmann, es hat keinen Sinn!

Glaub es mir, ich mein es gut mit dir -

Oder sprang ich dir nicht nach?

Wollte ich dich denn nicht vom Tode zurückreißen?

Jetzt weiß ichs ja, warum du in das Maschinengewehr  hineingelaufen bist, jetzt weiß ichs ja, daß ich dir keinen Gefallen getan hätt -

Aber mein Arm mußte daran glauben.

Er ist noch immer nicht ganz und vielleicht wird ers auch nimmer.

Wie kannst du mich einen Verbrecher nennen, wo ich dir helfen wollte?

Wie kannst du dich vor mir ekeln?

Denn ich gehör doch auch zum Vaterland.

Und deine Frau dort am Fenster ebenfalls.

Wenn ihr euch auch immer gestritten habt, es war ihr doch sicherlich lieber gewesen, du wärst wieder heimgekehrt - Sie ist zwar noch ein relativ junges Weib und wird sich schon trösten.

Aber trotzdem - trotzdem der einzelne keine Rolle spielt, du hättest es nicht tun dürfen, schau, sie ist ja ganz außer sich.

Ich werds ihr jetzt auch sagen, daß da keinerlei Strang eine Rolle gespielt hat, ich werd sie beruhigen, daß es nur ein feindliches Maschinengewehr gewesen ist -

Und ich sag es ihr.

Sie hört mir aufmerksam zu und fragt dann: »Ist das auch die Wahrheit?«

»Ja.«

Sie sieht mich traurig an mit ihren hellen Augen und lächelt ein bißchen, als wär sie müd. Dann schweigen wir wieder.

Ich wunder mich, wie ruhig sie geworden ist.

Plötzlich fragt sie mich: »Wollen Sie mir etwas versprechen?«

»Natürlich.«

»Behalten wir den Inhalt dieses Briefes für uns, bitte« - »Bitte« -

Sie nimmt den Brief an sich und fährt sich über die Frisur.

 »Es wär mir nämlich sehr, sehr peinlich, wenn jemand den wahren Tatbestand erfahren würde - ich stamme aus einer alten Beamten- und Offiziersfamilie und wenn dieser furchtbare Brief bekannt werden würde, gäbs nur einen himmelschreienden Skandal.«

»Zu Befehl.«

»Die wären ja imstand und ließen ihm selbst im Grab keine Ruhe. Sie würden ihn noch ausgraben und irgendwo verscharren, wo weit und breit kein ehrlicher Mann liegt« -

»Nicht unmöglich.«

Sie sieht mich groß an.

Du stammst also aus einer Beamten- und Offiziersfamilie - muß ich denken.

»Sie sind jetzt mein Mitwisser«, unterbricht sie meine Gedanken und lächelt wieder ein wenig. »Auf Sie kommts an, daß es unter uns bleibt, nur auf Sie, denn der liebe Gott, der wird ja schweigen« -

Sie nickt mir zu und verläßt das Zimmer.

 

[... ] [Bei dem Versuch, den Hauptmann zu retten, wird der Soldat schwer am Arm verletzt. Er ist nicht mehr wehrtauglich, erhält keine Versorgung, ist wieder arbeitslos. Die Erlebnisse lassen ihm keine Ruhe, er ändert seine Haltung zum Leben. Er erfährt vom Schicksal einer jungen Frau, die er vor dem Krieg gesehen hatte und nun finden will: Sie war ledig schwanger geworden, verlor daraufhin ihre Arbeit, war ebenfalls gescheitert. Im Affekt erschlägt er bei Nacht denjenigen, der zynisch und bürokratisch ihre Entlassung betrieben hatte. Die Leiche landet im Kanal, der Mord bleibt unentdeckt. Doch der Protagonist zerbricht an der Kälte seiner Zeit, erfriert in einer Winternacht, wird zum Schneemann. Das Ende des Romans:]

 

Vorbei, vorbei!

Es kommt eine neue Zeit.

Ich setze mich auf eine Bank und schließe die Augen.

Wie still die Welt werden kann -

Und wie lautlos manches geht und kommt.

Zum Beispiel die Erinnerung -

Auch aus den fernsten Winkeln.

In den Bäumen tickt eine Uhr - schlaf nur nicht ein!

Ich gähne und gähne, als kam eine große Nacht. Ja, es wird Zeit, daß du umkehrst, sonst schließt man noch das Tor.

Ich schrecke zusammen - was dachtest du da? Was war das für ein komischer Satz?

 Der hatte doch gar keinen Sinn? -

Jetzt kommt der Schnee.

Der Wind treibt ihn mir ins Gesicht - es juckt und zwickt, als wärens lauter Ameisen.

Sie kriechen und bauen.

Es wird immer schärfer und kälter.

Und auf einmal, da find ich ihn wieder, meinen Satz, diesen komischen Satz von vorhin - jetzt kann ich ihn sogar auswendig:

Am Anfang einer jeden neuen Zeit stehen in der lautlosen Finsternis die Engel mit den erloschenen Augen und den feurigen Schwertern. Ob die Frau meines Hauptmanns den Brief zerriß?

Oder ob ihn einst jemand finden wird?

Andere Menschen -

Geh heim, sonst schließt man noch dein Tor!

Laß nur, laß! Jetzt schlafen auch schon die Ameisen und die Kälte wird wärmer werden -

Es schneit, es schneit - wie in einem Märchenbuch.

Wo bin ich denn schon?

Das Zimmer ist dunkel, ich sitz auf dem Boden.

Die Fenster sind hoch, ich kann nur hinausschauen, wenn mich wer hebt.

Jaja, nach einem Krieg gibts oft keine Kohlen -

Ich werde den lieben Gott fragen, warum es Kriege geben muß.

»Es ist kalt«, das bleibt meine erste Erinnerung - - -

 

Die Nacht vergeht, langsam kommt wieder ein Tag.

Ich bin voll Schnee und rühre mich nicht.

Es kommt eine junge Frau mit einem kleinen Kind.

Das Kind erblickt mich zuerst, klatscht in die Hände und ruft: »Schau, Mutti! Ein Schneemann!«

Die Mutti schaut zu mir her und ihre Augen werden groß.

 Sie starrt mich entsetzt an und kreischt dann: »Um des Himmels willen!« Sie reißt das Kind mit sich weg und ich hör sie schreien: »Hilfe! Hilfe!«

Jetzt kommen die beiden wieder zurück, und noch einer ist dabei: ein Polizist.

Er bückt sich zu mir nieder und betrachtet mich aufmerksam. »Ja«, meint er, »der ist allerdings erfroren. Damit ists vorbei« -

Die Mutter wagt nicht mehr herzuschauen, aber das Kind kann sich kaum von mir trennen. Immer wieder dreht es sich um und schaut mich mit seinen runden Augen neugierig an.

Schau nur, schau!

Es sitzt ein Schneemann auf der Bank, er ist ein Soldat.

Und du, du wirst größer werden und wirst den Soldaten nicht vergessen.

Oder?

Vergiß ihn nicht, vergiß ihn nicht!

Denn er gab seinen Arm für einen Dreck.

Und wenn du ganz groß sein wirst, dann wirds vielleicht andere Tage geben und deine Kinder werden dir sagen: dieser Soldat war ja ein gemeiner Mörder - dann schimpf nicht auch auf mich.

Bedenk es doch: er wüßt sich nicht anders zu helfen, er war eben ein Kind seiner Zeit.

 

 

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