Gregorio Allegri (1582-1652) wäre wohl in der Musikgeschichte kaum bekannt, hätte nicht die Komposition seines Miserere (Psalm 50 bzw. 51) zu neun Stimmen in der Mozart-Biographie einen festen Platz gefunden. Der in Rom geborene Allegri war zunächst selbst Sängerknabe, dann Tenorist und schließlich ab 1629 päpstlicher Kapellmeister. In dieser Funktion schrieb er viele Werke, darunter eben diesen wohl 1638 entstandenen Chorsatz, der sich kaum von zahlreichen ähnlichen Kompositionen unterscheidet: Zwei Chöre zu fünf bzw. vier Stimmen singen im Wechsel die Psalmverse und vereinigen sich zum Schluß. Die einfache Akkordik über traditionellem Cantus firmus erhält durch zahlreiche Vorhaltsbildungen ihre feierliche Wirkung.

 

Die erste Italien-Reise von Vater und Sohn Mozart begann im Dezember 1769 und dauerte bis März 1771. Der Rom-Aufenthalt begann in der Karwoche 1770, bot also hinreichend Gelegenheit, die kirchenmusikalische Gestaltung der unterschiedlichen liturgischen Feiern zu erleben. Noch am Ankunftstag, dem 11. April, hörten Mozarts bei der Mette in der Sixtinischen Kapelle das Miserere von Allegri. Entsprechend der Tradition herrschte für die päpstliche Kapelle eine Art exklusives Aufführungsrecht, d. h. die Sänger durften die Noten nicht weitergeben. Dennoch war Allegris Miserere durchaus in Abschriften und später auch im Druck verbreitet. Der junge Mozart notierte nach dem Gottesdienst, vielleicht auch erst nach der Wiederholung am Karfreitag, die 23 Takte des Kompositionsmodells aus dem Kopf. Für einen hochbegabten Musiker wie ihn dürfte es nicht allzu schwer gewesen sein, beim Hören das sich wiederholende Kompositionsschema zu durchschauen und anschließend zu Papier zu bringen. Indessen wurde diese Leistung des Wunderkindes vom Vater nach Salzburg berichtet und trug zur Mythos-Bildung bei: Leicht ließ sich eine an Geheimnisverrat reichende Tat des Wunderkindes konstruieren.

 

Gregorio Allegris Miserere hatte bis 1870 einen festen Platz in der Karfreitagsliturgie der Capella Sistina, also noch in einer Zeit, in der solch ein reiner a-cappella-Vortrag sehr ungewöhnlich war. Damit wurde das Stück zum Inbegriff römischen Kirchengesanges — je nach Standpunkt ehrfürchtig bewundert oder mit Ironie bedacht. Die Wirkung des Stückes beruhte nicht zuletzt auf den besonders schönen Stimmen, die dafür eigens geschult wurden und die die Zuhörer in eine geradezu schwärmerische Ekstase zu versetzen vermochten. Victor Hugo bedachte indessen Allegri auf seine Weise, indem er in Les Misérables von der Mère Plutarque berichtete, deren frommer Kater Sultan so musikalisch sei, daß er durchaus in der Lage gewesen wäre, in Rom das Miserere zu miauen ("Sultan [...] qui eût pu miauler le miserere d'Allegri à la Chapelle Sixtine").

 

Beate Angelika Kraus