Die lateinische Totenmesse, Missa pro defunctis oder nach ihrem Textanfang auch Requiem genannt, zählt zu den ältesten Teilen der katholischen Liturgie — und ist zugleich musikalisch eine der bis heute lebendigsten Gattungen der Musikgeschichte. Dazu mag beigetragen haben, daß der Textaufbau des Requiems im Vergleich zu einer 'normalen' Messe flexibel ist und durch die ohnehin gegebene Abfolge unterschiedlicher Textsorten individuelle Akzente gesetzt werden können. Das Requiem behandelt mit dem Mysterium des Todes ein grundlegendes Thema menschlicher Existenz. Es ist daher geeignet, auch jenseits des kirchlichen Rahmens eine kulturelle Heimat zu finden, und so ist nicht verwunderlich, wenn sich — von Dufay (ca. 1470-71) bis Penderecki (1980-84) und bis heute — immer wieder Komponisten mit dieser Gattung künstlerisch auseinander setzen. Ein komponiertes Requiem ist weit mehr als Ausdruck individueller Trauer anlässlich eines konkreten Todesfalles; es hatte (nicht nur im französischen Absolutismus) als repräsentatives Werk eine wichtige Funktion. Relativ problemlos überlebte die Gattung die Zeit der Revolutionen und fand in der säkularen Heldenverehrung des 19. Jahrhunderts neue Ausdrucksformen. Wer dieser Entwicklung hin zur Zeit Verdis hörend nachspüren will, dem sei z.B. empfohlen: François-Joseph Gossec Gossec, dessen Musik alle Gattungen umfaßt und in der er das Erbe der französischen Klassik mit einem besonderen Gespür für Neuerungen verband, war über lange Zeit eine der wichtigsten Personen im französischen Musikleben. Seine Grande Messe des Morts wurde im Mai 1860 in der Pariser Eglise Jacobine uraufgeführt, machte Gossec über Nacht berühmt und spielte über mehr als ein halbes Jahrhundert als Prototyp des großen symphonischen Requiems eine wichtige Rolle. Das Werk erklang beispielsweise in Paris am 6. August 1789 zu Ehren der beim Sturm auf die Bastille ums Leben gekommenen Citoyens und bei der Totenfeier für Napoleons Admiral Eustache Bruix im März 1805. Wolfgang Amadeus Mozart Nachdem Mozart am 24. März 1878 in Paris eingetroffen war, beeilte er sich, seinem Vater bereits am 5. April nach Salzburg zu schreiben, daß „Mr Goßec, den sie kennen müssen“ von seiner Arbeit überzeugt sei und betont „er ist mein sehr guter freünd“. Es war ihm offenkundig wichtig, Gossecs Nähe zu suchen; und so mag nicht verwundern, wenn gewisse kompositorische Ähnlichkeiten zwischen Gossecs Grande Messe des Morts und Mozarts späterem Requiem festgestellt worden sind. Mozarts 1791 begonnenes, unvollendet gebliebenes Werk spielte eine wesentliche Rolle als ein „romantisches“ Requiem, vor allem auch, weil die Legendenbildung um die angeblich mysteriöse und schaurig-schöne Entstehungsgeschichte die Nachwelt in erheblichem Maße beschäftigt hat. Längst ist bekannt, daß Mozart im Sommer 1791 vom Grafen von Walsegg-Stuppach (einem unlängst verwitweten Logenbruder Mozarts) durch einen Überbringer 25 Dukaten als Anzahlung und den Kompositionsauftrag erhalten hat. Doch die Geschichte von dem sterbenden Genie, bei dem ein düsterer unbekannter Bote anklopft, ein Requiem bestellt, und das so gleichsam seine eigene Totenmesse komponiert, fügte sich bestens in das Künstlerbild der Romantik. Der Mythos um den in der Nacht zum 6. Dezember verstorbenen noch relativ jungen Mozart und sein unvollendetes Requiem war reizvoller als die Realität. Mozarts Requiem erklang bei den Trauerfeierlichkeiten für Beethoven, Chopin, Schiller, Klopstock und Napoleon und vieler anderer herausragender Persönlichkeiten. Sein Requiem ist primär ein Chorwerk. Es gibt keine Solo-Arien, in den wenigen Solo-Sätzen (Tuba mirum und Recordare) kommen alle vier Solisten gemeinsam oder nacheinander vor. Luigi Cherubini Das erste Requiem Cherubinis, für gemischten Chor in c-moll war ein offizielles Auftragswerk und erklang 1816 zum Gedächtnis an den französischen König Ludwig XVI., dessen Leben auf der Guillotine beendet worden war. Aufsehen erregte vor allem der theatralische Tamtam-Schlag im Dies irae sowie drastische rhetorische Mittel im Confutatis maledictis. (Die Beanstandung durch die Kirche trug dazu bei, daß Cherubini bei seinem zweiten Requiem in d-moll, komponiert ausschließlich für Männerstimmen, in der Wahl der Mittel und der individuellen Ausgestaltung des Textes wesentlich bescheidener vorging.) Hector Berlioz Die Grande Messe des Morts wurde am 22. März 1837 vom französischen Innenminister A. de Gasparin als staatliches Auftragswerk zum Gedenken an die Opfer der französischen Juli-Revolution bei Berlioz bestellt. Die Uraufführung fand am 5. Dezember 1837 im Pariser Invalidendom statt, konkreter Anlaß war dann der Tod des in Algerien gefallenen General Damrémont. Mit einem Aufgebot von vier zusätzlichen Orchestern, acht Paar Pauken und nahezu fünfhundert Mitwirkenden sprengte dieses Werk alle bisherigen Dimensionen. Die von Berlioz autorisierte gedruckte Fassung seines Requiems erschien 1853 bei Verdis Verleger Ricordi in Mailand, gefolgt von einer leicht veränderten zweiten Auflage 1867. Giuseppe Verdis Requiem ist vorgeworfen worden ist, es handele sich nicht um ein geistliches Werk, sondern allenfalls um patriotische Kirchenmusik oder gar um ein „liturgisches Ungeheuer“. Ungeachtet der Frage, ob das überhaupt ein „Vorwurf“ sein kann, sollte bedacht werden, daß Verdi in einer Tradition steht, in der ein Requiem längst mehr ist als eine Totenmesse. Auffallend ist die Vielschichtigkeit der Komposition, mit der dieses universale Thema, die Auseinandersetzung mit der Dramatik des Todes und die Notwendigkeit des Festhaltens am Leben, gestaltet wird. Sie ist passend zu einer Zeit, die von Wandel und politischen Umwälzungen geprägt war, in der der Tod auch auf dem Schlachtfeld ständig gegenwärtig war und kühne Zukunftsvisionen die Menschen auf der Schwelle zur Moderne beschäftigt haben. Natürlich ist diese Tradition Gossec–Mozart–Cherubini-Berlioz–Verdi mit ihrer dramatischen Gestaltung des Requiems keineswegs der einzig mögliche Weg einer kompositorischen Auseinandersetzung mit dem Tod. Es gibt durchaus Requiem-Vertonungen ohne solche großen dramatischen Kontraste, die mit einer zarten Klanglichkeit an den Cantus planus anknüpfen, eher wie ein Wiegenlied des Todes wirken. Beispiel: Das Werk von Gabriel Fauré (1900) mit der den Tod verklärenden Antiphon In Paradisum als Schlußsatz. Und: Das Requiem als katholische Form ist bei aller Variabilität des vertonten Textes nur eine musikalische Behandlung des Todes. Im protestantischen Raum existierten vor allem Trauer- und Gedenkmotetten. Später finden sich „Pseudo-Requiem-Kompositionen“, die wenig mit dem urprünglichen Text zu tun haben, z. B. als Deutsches Requiem von Schubert und von Brahms oder etwa Schumanns Requiem für Mignon. Beate Angelika Kraus