BLICK NACH SÜDOSTEN

Bei der ersten Ost-Erweiterung der Europäischen Union sind am 1. Mai 2004 unter anderem Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Slowenien beigetreten. Mit dem zweiten Teil dieser Erweiterung wurden am 1. Januar 2007 auch Rumänien und Bulgarien zu Mitgliedsländern einer Europäischen Union, die inzwischen 490 Millionen Einwohner zählt. Bereits die österreichisch-ungarische k.&.k. Doppelmonarchie war ein Vielvölkerstaat; heute sprechen wir von einem "multikulturellen" Europa.

Unser musikhistorisches Denken ist indessen nach wie vor weitgehend auf jene westlichen Metropolen wie Rom, Paris oder Wien fixiert, die lange kulturell tonangebend waren. Im Jahr 2007 ist es an der Zeit, den Blick Richtung Südosten zu lenken: Worin besteht der Beitrag von Ländern wie Ungarn und Rumänien? Welche Rolle spielte das Zentrum der Donaumonarchie, aber auch die Volks- und Zigeunermusik in den von Wien entfernten Landesteilen? Wie steht es überhaupt um die nationale Identität von südosteuropäischen Komponisten seit dem 19. Jahrhundert? Sind sie Exoten vom Rande Europas oder kreative Außenseiter, die für die Moderne gerade deshalb richtungweisend gewirkt haben?

Bereits Franz Liszt musste sich fragen, ob er nun Ungar, Franzose, Deutscher, Römer oder einfach ein Zigeuner sei --- und gewiss war er als Europäer seiner Zeit weit voraus. Auch in diesem Jahr bietet die Meersburger Sommerakademie Gelegenheit, neben der Erarbeitung ausgewählter musikalischer Kunstwerke der letzten anderthalb Jahrhunderte über das eigene kulturelle Verständnis nachzudenken. Sie bleibt somit nicht der (Musik-)Geschichte verhaftet, sondern will auch Impulse geben für unsere Zeit.

War die Musikgeschichtsschreibung lange auf Komponisten und so genannte Meisterwerke ausgerichtet, so untersucht die neuere Musikwissenschaft zunehmend auch kulturelle Handlungsorte und fragt nach den Rahmenbedingungen des Musiklebens. Am Beispiel der in Meersburg 2007 behandelten Komponisten wird dieser Ansatz vermittelt. In Serenadenkonzert, Kammerkonzert und Salonkonzert erklingen ganz unterschiedliche Werke von Komponisten des südosteuropäischen Kulturraumes --- und von solchen, die sich daher, insbesondere von der "Zigeunermusik", haben inspirieren lassen. Das Repertoire reicht vom Konzertsaal über den Salon bis auf die Operettenbühne. Das Chorkonzert vereint die extrem selten aufgeführte Missa solennis von Franz Liszt mit einer Uraufführung, einem Auftragswerk an Burkhard Kinzler. Werke treten somit in einen Dialog und zwingen zum Vergleich über Gattungsgrenzen und Zeiten hinweg.

In der durch Kriege und Eroberungen bestimmten Geschichte Südosteuropas waren Landesgrenzen über Jahrhunderte der Willkür unterworfen. Ungarn und Rumänien mit dem im Grenzland liegenden deutsch geprägten Siebenbürgen waren je nach politischer Situation westlichen oder östlichen Einflüssen ausgesetzt. Glaubensfragen bestimmten katholische, evangelische und orthodoxe Christen oder auch Muslime. Migration und Grenzverschiebungen waren Konstanten einer Geschichte, die einerseits kulturelle Mischformen begünstigte, andererseits die Suche nach der jeweiligen eigenen Identität notwendig machte — keinesfalls nur in Zeiten, in denen das osmanische Reich bis kurz vor Wien reichte. Hinzu kommt die sprachliche Situation: Rumänisch ist eine auf römischem Territorium gewachsene romanische Sprache, entsprechend orientierten sich die Intellektuellen eher Richtung Paris. Ungarisch als nicht-indogermanische Sprache (verwandt mit Finnisch, Estnisch und Samisch) zählt zu den Exoten in Europa; allerdings dominierte Deutsch lange als Sprache der Oberschicht.

Das 19. Jahrhundert mit der Suche nach eigener nationaler Identität war eine Epoche, in der verstärkt nach den jeweiligen kulturellen Wurzeln gesucht wurde. Nicht nur für einen Franz Liszt, der mit seiner 1854 geschriebenen symphonischen Dichtung Nr. 9 Hungaria seinem Land ein symphonisches Denkmal gesetzt hatte, bot Südosteuropa neues Material, auch andere Komponisten schöpften aus dem lange ignorierten Kulturgut: Johannes Brahms hatte 1852 Freundschaft mit dem ungarischen Geiger Eduard Reményi geschlossen und kam so mit ungarischer Volksmusik in Berührung. Die daraus entstandenen, auf Originalmelodien beruhenden Ungarischen Tänze schrieb er ursprünglich für Klavier, es existieren jedoch Orchestrierungen von Brahms und anderen Komponisten.

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