Oratorien des 17. bis 20. Jahrhunderts aus dem italienischen, englischen, deutschen und französischen Kulturraum

Oratorium wird zumeist als nichtszenische Schwestergattung der Oper und als Vertonung eines geistlichen, nicht liturgischen Textes definiert. Die sehr unterschiedlichen Oratorien zeigen, dass Funktion und Aufführungstradition von erheblicher Bedeutung für das Verständnis dieser Kulturform sind. Bekannte und (heute) vergessene Oratorien werfen die Frage nach Sinn und Aktualität der Gattung auf.

Literaturtipps:

  • Günther Massenkeil, Oratorium und Passion, 2 Bände, Laaber 1998/1999
  • Silke Leopold + Ullrich Scheideler (Hrsg.), Oratorienführer, Kassel/Stuttgart (Bärenreiter, Metzler) 2000

Aspekte zur Annäherung an das Thema:

  • Aufführungsorte (Oratorium zunächst = geweihter Betsaal/Gottesdienstraum, der nicht Pfarrkirche ist)
  • religionsgeschichtliche Voraussetzungen. Die Anfänge der filippinischen Institution Oratorium": Filippo Neri versammelte nach seiner Priesterweihe (1551) in Rom Gläubige zu täglichen geistlichen Übungen („Esercizi spirituali") am späten Nachmittag in dem Oratorium von S. Girolamo della Carità. Zum Erfolg des charismatischen Geistlichen, der ab 1564 als Rektor der Kirche S. Giovanni dei Fiorentini berufen wird, mit einigen seiner Anhänger eine Priestervereinigung gründet.
  • Frage nach dem jeweiligen Aufführungskontext (z.B. Blick auf Frömmigkeitstraditionen, politische Funktion etc.)
  • Sprache (latein und andere Sprachen, abhängig vom „Publikum")
  • Inhalte und Libretti (Was ist ein Oratorienstoff? Wer schreibt die Texte?)
  • Gattungsgrenzen (Oratorium, Kantate, Oper...), entsprechend sehr unterschiedliche Zählung, was als Oratorium gilt und was nicht, denn zunächst steht nur im Ausnahmefall „Oratorium" auf dem Titelblatt, eher: historia, melodramma sacro, componimento sacro, azione sacra, sacred drama, mystère, poème sacré, scène biblique, musikalisches Drama.....

zu den Anfängen in Rom und Italien

Emilio de' Cavalieri (1550?-1602):

Rappresentazione de anima e di corpo (Das Schauspiel von Seele und Körper)

Text (italienisch): Agostino Manni; Mitarbeiter Dorisio Isorelli

Uraufführung Februar 1600 in Rom; Dauer: ca. 90 Minuten

De' Cavalieri stammte aus Rom, wurde 1587 Generalintendant der Hofmusik von Großherzog Ferdinando de' Medici in Florenz, 1600 Rückkehr nach Rom.

Kontext: paraliturgische Andachtsübungen in den Jahren nach dem Konzil von Trient, allegorische Figuren (Intellekt, Vergnügen, Zeit...), verwirklicht Anspruch der Oratorianer nach einer einfachen und populären Musiksprache, Chorsätze fast immer homophon, Textdeklamation im Vordergrund.

Giacomo Carissimi (1605-1674):

Dives Malus (Historia Divitis)

(lateinisches Oratorium; dazu ggf. als „Schüler- Aufgabe" Vergleich der deutschen Fassung des Oratorien-Textes mit der Text-Grundlage im Lukas-Evangelium (Text siehe unten): Was wird weggelassen? Was wird hinzugedichtet oder musikalisch besonders ausgeschmückt? Welche Rollen sind biblisch, welche ergänzt? Welche Stimmfächer sind den Personen zugeordnet?)

Vom reichen Mann und armen Lazarus (nach Lukas 16, 19-31):

19Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden.  20Es war aber ein Armer mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Tür voll von Geschwüren  21und begehrte, sich zu sättigen mit dem, was von des Reichen Tisch fiel; dazu kamen auch die Hunde und leckten seine Geschwüre.  22Es begab sich aber, daß der Arme starb, und er wurde von den Engeln getragen in Abrahams Schoß. Der Reiche aber starb auch und wurde begraben.  23Als er nun in der Hölle war, hob er seine Augen auf in seiner Qual und sah Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoß.  24Und er rief: Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und mir die Zunge kühle; denn ich leide Pein in diesen Flammen.  25Abraham aber sprach: Gedenke, Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, Lazarus dagegen hat Böses empfangen; nun wird er hier getröstet, und du wirst gepeinigt.  26Und überdies besteht zwischen uns und euch eine große Kluft, daß niemand, der von hier zu euch hinüber will, dorthin kommen kann und auch niemand von dort zu uns herüber.  27Da sprach er: So bitte ich dich, Vater, daß du ihn sendest in meines Vaters Haus;  28denn ich habe noch fünf Brüder, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.  29Abraham sprach: Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören. b  30Er aber sprach: Nein, Vater Abraham, sondern wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun.  31Er sprach zu ihm: Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.

(Nach sechs Jahren als Musiker an der Kathedrale von Tivoli von 1629 bis zu seinem Tode war Carissimi Kapellmeister am Collegium Germanicum Hungaricum in Rom, seit 1637 Priester.)

Frankreich

Marc-Antoine Charpentier (um 1643-1704):

Judicium Salomonis (Das Urteil des Salomon) H. 422

Text (latein): nach dem Alten Textament 3 Könige 3, 1-28

Entstehungszeit: 1702; Uraufführung 11. November 1702 in Paris; Dauer: ca. 35 Minuten

Auch bezeichnet als „Motet pour la messe rouge du Palais", komponiert für die feierliche Messe anlässlich der jährlichen Zusammenkunft des „Parlement" = Versammlung der Provinzialgerichtsvertreter, die rote Roben trugen, im Pariser Palais de Justice.

(Der Franzose Charpentier war Schüler von Carissimi in Rom zwischen 1662 und 1667, dann Kapellmeister der Herzogin von Guise, außerdem Zusammenarbeit mit Molières Theatertruppe. In den 1680er Jahren Kapellmeister der Jesuitenkirche Saint-Louis in Paris. Von 1698 bis zu seinem Tode Kapellmeister der (königlichen) Sainte Chapelle. Entsprechend den unterschiedlichen Funktionen schrieb er sehr verschiedene lateinische Oratorien-Werke.)

England und Georg Friedrich Händel (1685-1759)

Händel sammelte Erfahrungen in Norddeutschland (Hamburger Oper etc.), auch er vertonte das Libretto „Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus" von Barthold Heinrich Brockes (1680-1747), daher genannt „Brockes-Passion", er kannte Charpentier und das französische Oratorium (Auseinandersetzung mit Racine), machte Karriere in England und gilt als DER Schöpfer und Repräsentant des englischen Oratoriums (in englischer Sprache). Vor Händel hatte es in England keine eigene Oratorien-Tradition gegeben. Als Beispiele bieten sich an:

Der für die Sünden der Welt gemarterte und sterbende Jesus HWV 48

Entstehungszeit um 1716/17, UA vermutlich 1719 in Hamburg

Esther (Haman and Mordecai). Oratorio in Six Scenes, HWV 50a/50b
Text: Alexander Pope und John  Arbuthnot (nach Jean Racine: Esther)
Entstehungszeit: 1718; Uraufführung vermutlich 1718/1720 (Bearbeitungen und weitere Fassungen: 1732 in London uraufgeführte 2. Fassung (HWV 50b) mit einer Reihe von Neukompositionen nach Texten von Samuel Humphreys); Dauer: ca.100 Minuten.
Es handelt sich dabei um das erste englische Oratorium!!!

Athalia. An Oratorio or Sacred Drama HWV 52
Text: Samuel Humphreys (nach Jean Racine: Athalie)
Entstehungszeit Ende April bis Anfang Juni 1733; Uraufführung 10. Juli 1733 in Oxford
Dauer: ca. 120 Minuten
(= zweite Auseinandersetzung mit Racine; erste negative Heldin in Händels Werk!!!)

Israel in Egypt. Oratorio in Three Parts HWV 54 (1739)
Text: Bearbeiter unbekannt
Entstehungszeit: Oktober bis November 1738; Uraufführung: 4. April 1739 in London
Dauer 145 Minuten

The Messiah. A Sacred Oratorio HWV 56
Text: AT und NT (vermutlich zusammengestellt von Charles Jennens)
Entstehungszeit: 22. August bis 14. September 1741; Uraufführung: 13. April 1742 in Dublin
(Im Frühjahr 1789 erweiterte W. A. Mozart im Auftrag Baron Gottfried van Swietens die Instrumentation um Flöten, 2 Klarinetten, 2 Hörner, 3 Posaunen (KV 572)

Jephtha. Oratorio in Three Acts HWV 70
Text: Thomas Morell (nach AT: Buch der Richter)
Entstehungzeit: Januar bis August 1751; Uraufführung: 26. Februar 1752 in London
Dauer: ca. 180 Minuten
autobiographischer Bezug: Händel 66jährig und halb erblindet;Hörbeispiel: Chorus „How dark, O Lord, are Thy decrees! All hid from mortal sight! [...](Wie dunkel, oh Herr, sind deine Ratschlüsse! Verborgen vor dem sterblichen Blick! [...]

Deutsches Oratorium im 18. und in der 1. Hälfte des 19. Jahrhundert

Oratorien bekannter Komponisten, wie z.B.:

Joseph Haydn (1732-1809): italienisch (Il Ritorno di Tobia) und deutsch (Die Schöpfung, Die Jahreszeiten)

Wolfgang Amadé Mozart (1756-1791): italienisch, z.B. La Betulia liberata

Ludwig van Beethoven (1770-1827): deutsch, Christus am Ölberge

Franz Schubert (1797-1828): Lazarus oder die Feier der Auferstehung, Religiöses Drama in drei Akten D 689; Text (deutsch): August Hermann Niemeyer

Entstehungszeit: Oktober 1819 bis Herbst 1820; Uraufführung: 11. April 1830 in Wien

+ Literaturtipp:  Christine Blanken: Franz Schuberts "Lazarus" und das Wiener Oratorium zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 2002

als eher „unbekanntes Oratorium":

Maximilian Stadler (1748-1833):

Die Befreyung von Jerusalem. Großes Oratorium in zwey Abtheilungen

Text (deutsch): Heinrich und Matthäus von Collin (vgl. hierzu Corialan!!!)

Entstehungszeit: Sommer 1812; Uraufführung: 9. Mai 1813 in Wien; Dauer: ca. 75 Minuten

Oratorium im 20. Jahrhundert

An einigen Beispielen: Frage einer „Krise" dieser hybriden Gattung:

- Weltanschauungsmusik (bis hin zum Oratorium als verordneter Gattung im Sozialismus, Schostakowitsch)
- Formprobleme (gesungene Symphonie wie z.B. bei Gustav Mahler), gescheiterte Oratorienpläne bei Max Reger, Fragment bei Schönberg
-  Grenzlage zu Oper/Musiktheater (Arthur Honegger)
- Oratorium als Monumentalwerk (Paul McCartney, zum 150. Jubiläum des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra 1991)

Arnold Schönberg (1874-1951):
Die Jakobsleiter
Text (deutsch): Arnold Schönberg
Entstehungszeit: seit Sommer 1917 bis Ende 1944; Uraufführung:  16. Juni 1961 in Wien
Dauer: ca. 45 Minuten (Fragment)

Arthur Honegger (1892-1955):
Jeanne d'Arc au bûcher (Johanna auf dem Scheiterhaufen)
Text (französisch): Paul  Claudel; deutsche Textfassung von Hans Reinhart
Entstehungszeit: Januar bis August 1935, Prolog 1944 hinzugefügt
Uraufführung:  12. Mai 1938 (konzertant) in Basel, 13. Juni 1942 (szenisch, in deutscher Sprache) in Zürich; Dauer: ca. 70 Minuten

Dmitrij Schostakowitsch (1906-1975):
Pesen' o lesach. Oratorija  op. 81 (= Das Lied von den Wäldern. Oratorium)
Text (russisch): Jewgenij Dolmatowskij
Entstehungszeit: Sommer 1949; Uraufführung: 15. November 1949 in Leningrad
Dauer: ca. 35 Minuten

Paul McCartney (geb. 1942):
Liverpool Oratorio. Oratorio in eight movements.
Text (englisch): Paul McCartney
Entstehungszeit: 1989-1991; Auftragswerk von The Royal Liverpool Philharmonic Society anlässlich ihres 150. Geburtstages; die Komposition ist eine Zusammenarbeit von Paul McCartney und Carl Davis; Uraufführung: 28. Juni 1991 in Liverpool; Dauer: ca. 95 Minuten. Autobiographischer Bezug zum Leben des „Beatle" Paul McCarlney; die Handlung beginnt im Winter 1942, in einer Welt im Kriegszustand; Sirenen heulen, während Bomben auf Livepool fallen und die Menschen Schutz suchen. Inmitten der Brände und des Chaos bei einem Luftangriff weird ein Kind geboren, es gibt Hoffnung...

Paul McCartney:
Ecce Cor Meum (Siehe, mein Herz), ein lateinisch-englisches Oratorium in vier Sätzen, von John Fraser orchestriert;  Dauer ca. 57 Minuten.
Die erste Version wurde 2001 vom Chor des Magdalen College unter Leitung von Bill Ives im Sheldonian Theatre in Oxford aufgeführt. Der „Magdalen College Choir" war auch Auftraggeber des Werkes, das ein Chorwerk im Stile Händels werden sollte. Eine überarbeitete Fassung wurde am 3. November 2006 in London uraufgeführt.

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