Michael Tippett über Johann Sebastian Bachs Passionen und über die Verwendung von Spirituals anstelle der Choräle

Vgl. Meirion Bowen (Hrsg.): Tippett on Music, Oxford University Press 1995.

Nachfolgend zitiert aus: Michael Tippett: Essays zur Musik, hrsg. von Meirion Bowen, aus dem Englischen von Meinhard Saremba, Mainz 1998, S. 151-152:

„ [...] Aber durch die Musik vergangener Zeiten kannte ich die beiden regional unterschiedlichen Traditionen der Texteinrichtung, die mich schon immer gereizt hatten: Die Anlage von Händels Messias und der lutherischen Passionen. [...]

Die Anlage der lutherischen Passionen ist natürlich einheitlicher, da ihre Grundlage dem Inhalt entsprechend das Evangelium der Liturgie des Passionssonntags ist. Innerhalb dieser einheitlichen Anlage lassen sich die traditionellen Funktionen von Musik und Sprache immer auseinanderhalten: Schilderungen im Rezitativ, Beschreibungen bei den Chören, kontemplative Arien und schließlich die besondere protestantische Form des Gemeindeliedes. Ich wollte alle diese Gestaltungselemente in der vom Messias entlehnten Anlage verwenden.

Schwierig wurde es natürlich mit dem Lied für die Gemeinde. Ein  modernes Oratorium, das auf dem Feingefühl für die Emotionen beruht, die die inneren und äußeren Ereignisse in Europa und Amerika zwischen den beiden Weltkriegen ausdrücken, und das für den Konzertsaal und nicht für die Kirche gedacht ist, kann sich lediglich der Bildersprache der christlichen Liturgie bedienen. Christliche Kirchenlieder sagen Agnostikern oder Juden nichst, jüdische Gesänge sagen jedoch dem normalen Konzertbesucher noch weniger. Denn „etwas sagen" bedeutet in diesem Sinne den Vorgang hervorrufen, den die vielgeliebten Loblieder bei der entsprechenden Versammlung der Gläubigen erzeugen. Aber inwiefern sind die Hörer in einem Konzertsaal überhaupt eine Versammlung von Gläubigen?

Einige Zeit war ich noch ratlos. Dann hörte ich an einem Sonntag, den ich nie vergessen werde, im Radio einen Sänger mit dem Negro-Spiritual „Steal Away". Bei der Phrase „The trumpet sounds within my soul" („Die Trompete erklingt in meiner Seele") wurde ich plötzlich mit einer Eingebung gesegnet: Durch diese Phrase wurde ich nämlich auf eine Art und Weise bewegt, die weit über das hinausging, was die musikalische Phrase selbst leisten kann. Ich erkannte, daß in England beziehungsweise Amerika jeder auf diese Weise bewegt sein würde. Dabei drängte sich mir die Einsicht auf, daß die einzigartige sprachliche und musikalische Metapher für diesen bestimmten Zweck in diesem bestimmten Oratorium gefunden war. Aber erst nach dem Weltkrieg, der bald dazwischenkam, konnte ich bei Aufführungen feststellen, daß die Negro-Spirituals überall in Europa, und wahrscheinlich in der ganzen Welt, keine Verständnisprobleme bereiten.[...]"

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