A Child of Our Time"

 Das Oratorium „A Child of Our Time" des englischen Komponisten Michael Tippett (1905-1998) setzt die Kenntnis weiterer Werke und historischer Ereignisse voraus, will man es in seiner Vielschichtigkeit begreifen.

Der Titel verweist auf den Roman „Ein Kind unserer Zeit" von Ödon von Horváth, der 1838 in Amsterdam erschienen und rasch durch Übersetzungen auch in anderen Ländern verbreitet wurde. Als Anklage gegen Diktatur, das von den Machthabern organisierte „Untermenschentum" und Krieg erzählt er die Geschichte eines gescheiterten Soldaten, der schließlich in Verzweiflung einen Mord begeht und sich am Ende als Opfer seiner Zeit und ihrer Gefühlskälte in einer Winternacht tödlichem Frost aussetzt. Das Kind unserer Zeit wäre damit der unbekannte Soldat.

Fragt man, wer die namentlich bewusst nicht benannte Titelfigur bei Tippett sei, dann muss auch der Hannoveraner Jude Herschel Grynspan genannt werden, dem die Flucht nach Frankreich gelungen war, während seine Familie von den Nationalsozialisten nach Polen deportiert wurde. In seiner Verzweiflung ging der erst Siebzehnjährige am 7. November 1938 zur deutschen Botschaft in Paris und erschoss den Diplomaten Ernst vom Rath. Dieses Ereignis wurde propagandistisch als Anlass für die so genannte Reichskristallnacht genutzt.

Musikalisch stellt sich Tippett in die Tradition der Barockmusik und knüpft an die Passionen Johann Sebastian Bachs an. Es finden sich Chöre, Rezitative und Arien für die verschiedenen handelnden, reflektierenden oder erzählenden Personen; Turba-Chöre beschreiben Emotionen und Aktionen der Massen. Anstelle der lutherischen Choräle verwendete Michael Tippett an den wichtigsten Stellen des Werkes fünf traditionelle Negro Spirituals, die, meist auf alttestamentlichen Texten basierend, aus dem Leben geschundener und dennoch sehnsüchtiger Menschen erzählen. Auch die Sklaven, die wegen ihrer Rasse oder Herkunft Verfolgten, sind damit aufgenommen in diese musikalische Mahnung zu Toleranz, Humanität und Gerechtigkeit.

Vorbild für die formale Gestaltung der drei Teile war Georg Friedrich Händels Oratorium „Messiah" (Der Messias) HWV 56. Der erste Teil ist eine grundsätzliche Zustandsbeschreibung, bei der zunächst die Jahreszeitenmetaphorik (Kälte und Finsternis der Welt) auffällt. Im zweiten Teil tritt das Kind unserer Zeit in Erscheinung als ein Stern mitten im Winter; seine Geschichte wird erzählt. Im dritten Teil wird über das Erfahrene meditiert, es geht um den zweifelnden Menschen, die Frage nach dem Schicksal des Knaben; und das Werk endet religiös-hoffnungsvoll. Damit wäre die Hauptfigur auch so etwas wie das Christkind des 21. Jahrhunderts.

Ein weiterer Schlüssel zum Werk ist die Psychoanalyse, insbesondere Tippetts intensive Auseinandersetzung mit Carl Gustav Jung. Das 1939 vollendete Libretto, das ursprünglich der Schriftsteller T. S. Elliot schreiben sollte, dann jedoch (durch dessen freundschaftliche Ermutigung) vom Komponisten selbst verfasst wurde, thematisiert die Dualität von Gut und Böse. Der Chor des Finales „I would know my shadow and my light, so shall I at last be whole", bringt zum Ausdruck, dass es darum gehen müsse, den eigenen Schatten (Tippet verwendet diesen Begriff der Jung'schen Psychologie) zu kennen und zu akzeptieren, um ganz und heil zu werden. Damit steht die menschliche Seele - jenseits jeglicher literarischer, historischer oder religiöser Zuordnung des Oratorienstoffes - im Zentrum des Werkes.

Das gleichsam zeitlose Oratorium erklang erstmals am 19. März 1944 in London. Unter den Solisten war Peter Pears; die Chöre und das London Philharmonic Orchestra standen unter der Leitung des deutschen Emigranten Walter Goehr. Es war für den neben Benjamin Britten bekanntesten englischen Komponisten des 21. Jahrhunderts der internationale Durchbruch. Er selbst sah es als Wendepunkt in seinem Schaffen, hatte damit die Beherrschung umfangreicher dramatischer Formen gelernt. Das Spektrum der musikalischen Ausdrucksmittel reicht von der einfachen Tonalität der Spirituals bis zu grenzüberschreitenden und höchst komplexen Strukturen. Auch wer diese nicht im Detail analysiert wird emotional unmittelbar berührt von einer Musik, deren Komponist als Pazifist und Kriegsdienstverweigerer 1943 zu drei Monaten Haft verurteilt worden war und dessen Werk im besten Sinne der Oratorien-Tradition für seine Weltanschauung und die Sehnsucht nach Frieden steht.

Literaturtipps:

Meirion Bowen (Hrsg.): Tippett on Music, Oxford University Press 1995

bzw.

Michael Tippett: Essays zur Musik, hrsg. von Meirion Bowen, aus dem Englischen von Meinhard Saremba, Mainz 1998

Dieses Buch ist unverzichtbar zum Verständnis von Tippetts Kompositionen, seinen musikalischen Wurzeln und seiner Ästhetik, es enthält auch wesentliches Material zu „A Child of Our -Time"!!!

Eric Lange: Michael Tippetts Oratorium „A Child of Our Time", Eine Monographie, Bonn 1998 [musikwiss. Magisterarbeit, Universität Bonn, erschienen im Selbstverlag des Autors]

im Internet:

Artikel über Michael Tippett auf der Homepage der Peace Pledge Union, London unter:
http://www.ppu.org.uk/learn/infodocs/people/pst_tippett.html

Ernst Kausen, Michael Tippett: A Child of Our Time, ©November 2008, zugänglich als Weblink über:
http://de.wikipedia.org/wiki/A_Child_of_Our_Time

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